Wie digitale Höhlenmenschen zum wahren Licht kommen. Predigt zum Christfest

Wir hier sind doch keine Höhlenmenschen. Wir leben in eigenen Häusern oder zumindest auf Miete in den eigenen vier Wänden. Wenn es nicht gerade Winter ist, haben wir es tagsüber fensterlichthell zuhause. Das Feuer qualmt nicht durch unsere Räume, sondern knistert im Kaminofen. Die Rauchentwicklung zieht geruchsneutral über den Schornstein ab. Die Kleidung ist uns auf den Leib geschnitten, die Haare sind fettfrei gewaschen, die frisierte Haarlänge hat schon längst wieder Ohren- und Nackenfreiheit erreicht, zumindest bei den Männern. Zivilisierte Menschen sind wir, keine neandertaligen Höhlenmenschen.

Nur noch in zwei Steinkohlebergwerken in Deutschland wird unter Tage gearbeitet. Aber 2018 nach Auslaufen der Steinkohlesubventionen soll auch dort Schicht im Schacht sein. Keine schwarzgefärbten Gesichter mit Helmen und Grubenlampen werden dann mehr aus dem Schacht ans Tageslicht kommen. So leben und arbeiten wir kaum unterirdisch, sondern über Tage, scheinen alles um uns herum im rechten Licht zu erkennen.

Und doch, über Höhlenmenschen lassen Gleichnisse erzählen, die uns gerade heute angehen. In Platons Dialog Politeía führt Sokrates in eine ganz besondere, unterirdische Lebens- und Erkenntnissituation ein: Menschen finden sich da in einer unterirdischen Höhle ohne Tageslicht wieder. Sie sind dabei so gefesselt und fixiert, dass sie nur auf die dunkle Höhlenwand vor ihnen schauen können. Hinter ihrem Rücken wird ein Schattenspiel aufge­führt, wo das Feuerlicht vorübergetragene Gegenstände schattenhaft auf die Höhlenwand projiziert. So sehen also die Menschen nicht die materiellen Gegenstände hinter ihnen, sondern nur Schattenbilder vor ihnen. Mangels eigener Vergleichsmöglichkeit müssen sie diese Bilder für allein wirklich halten. Das eigene Leben solchermaßen auf die Höhlenwand fixiert wird ganz und gar zur Kinoveranstaltung.

Da sind wir nun auch schon in der Gegenwart angelangt. Ihr habt es ja auch bemerkt, wie die Blickwinkel und Blickrichtungen von Menschen sich zunehmend verändern. Wir verlieren mehr und mehr die freie Sicht in die Horizontale, schauen uns immer weniger um. Stattdessen fixiert sich unser Blick schräg nach unten in 25 cm Abstand auf einen handbreiten Bildschirm. Was unser Smartphone an bewegten oder auch unbewegten Bildern zu bieten hat, lässt schwerlich ein Entkommen zu: Alles was ich wissen will, alles was mir wichtig ist, alles worum sich das Leben dreht, taucht auf einem 5,5 Zoll-Bildschirm auf – direkt vor mir.

Was sich um mich herum bewegt, wer auf mich zukommt, wer mich zu berühren sucht, wer mir etwas zeigen will, kommt nicht länger durch zu mir. Denn alles was ich für meine Sinnesbefriedigung brauche, spielt sich auf diesem kleinen Bildschirm ab und kommt mir zusätzlich über die Earphones zu Gehör.

Wir sind dabei digitale Höhlenmenschen zu werden: Mit unserem Körper bewegen wir uns zwar immer noch im Tageslicht, aber unsere Sinne sind vom Bildschirm vor uns eingenommen. Was wir uns selbst auf dem Smartphone alles vor Augen führen können ist einfach gigantisch. Im Netz kann uns das Sinnesfutter nie ausgehen. Und wir dürfen dabei scheinbar frei wählen. Was für eine Versuchung für unser Leben – mir selbst diejenigen Bilder zu suchen, die mich einnehmen. Doch am Ende steht sowohl für digitale Höhlenmenschen wie auch für Platons Höhlenmenschen das gleiche Schicksal: Das bildreiche Leben wird schlussendlich zum Staub werden. Bilderwelten bergen kein ewiges Leben.

So sind digitale Bilder weder Lösung noch Erlösung für unser Leben. Die bleibende Wahrheit unseres Lebens muss anders ans Licht kommen. Und dazu sind wir heute am Heiligen Abend hier in der Kirche am richtigen Ort. Im Weihnachtsevangelium haben wir von der Krippe gehört, in die das Jesuskind gelegt worden ist. Maria und Josef sind anwesend, die Hirten kommen herzu. Nur der Stall fehlt. Im Weihnachtsevangelium ist keine Rede von ihm. Wo Menschen sich auf die Suche nach dem Geburtsort Jesu machen, landen sie in einer Höhle. Die Grabeskirche in Bethlehem ist ja über der Geburtsgrotte gebaut. Unterirdisch also ist der Gottessohn zur Welt gekommen. Auch heute noch wird in der orthodoxen Kirche der Geburtsort Jesu ausschließlich als Höhle dargestellt.[1]

Der Gottessohn ist in einer judäischen Höhle Mensch geworden, um uns von uns selbst zu erlösen. Mit dieser Aussage gewinnt die Weihnachtsbotschaft eine neue Bedeutung: Unser Leben ist wie in einer Höhle von vergänglichen Schattenbildern eingenommen. Und wir kommen einfach nicht selbst aus den selbstverliebten Bilderwelten raus, können nicht über uns selbst hinausgehen, uns jenseits der Sinneswelt in die göttliche Ewigkeit aufschwingen.

Was auch immer wir uns selbst denken können, was auch immer wir für Vorstellungen vom ewigen Glück haben – all unser Denken, Sehnen, Wünschen bringt uns schlussendlich nicht aus unserer Lebenshöhle heraus. In Gedanken mag man mitunter woanders sein – und doch bleibt unser Menschsein dem Irdischen, gar Unterirdischen verhaftet. Vorübergehende Aufhellungen mögen uns zwar gegönnt sein, wo wir in den sozialen Netzwerken den Like-Button anklicken. Aber für die Erdschwere unseres bebilderten Lebens gibt es keine digitale Himmelfahrt.

Am Heiligen Abend sind keine besonders schöne Bilder angesagt, sondern eine nackte Botschaft: Der Gottessohn ist in die Dunkelheit unseres menschlichen Lebens eingetreten, hat Fleisch und Blut angenommen, um unser irisches Leben ins wahre göttliche Licht zu bringen. Unser Leben ist bei Gott nicht zum „eingebildeten“ Höhlendasein bestimmt. Als Gottes Geschöpfe und seine Ebenbilder sind wir vielmehr von unserer Geburt her angelegt auf Begegnung und Berührung – Berührung, die in Liebe verbindet; die für uns verbindlich wird, die uns keine Wahl mehr lässt, die nicht einfach wie auf einem Smartphone weggewischt werden kann, damit ein neues, vermeintlich attraktiveres Bilderangebot sich vor uns auftut.

Der Gottessohn Mensch geworden berührt uns leiblich. Göttliche Liebe nimmt unser Leben für sich ein. Seine Hingabe für uns in die Krippe zu Bethlehem und am Kreuz von Golgatha geht unter die Haut, reißt uns von uns selbst los, entfesselt uns von selbstverliebten Bilderwelten, nimmt uns mit auf den Weg des Glaubens, dass wir dem dreieinige Gott unser ewiges Heil zutrauen. Was bei Gott für unser Leben als Ziel vorgesehen ist, wird auf keinem Smartphone enthüllt.

Unser christlicher Glaube wird in Zukunft mit davon abhängen, ob wir Smartphones bewusst und gewollt weglegen können, ob wir neu hinhören können, ob wir hinzukommen können, gerade auch zur Kirche, ob wir uns tatsächlich versammeln können, ob wir uns wirklich vom Weihnachtsevangelium berühren lassen. Jesus Christus, Gottes Sohn Mensch geworden, fordert uns heraus mit unserer Seele, mit unserem Körper und mit unserem Glauben. Im Glauben treten wir vor Jesus Christus und sprechen ihm zu: Du bist mein Heiland, mein Erlöser, mein Befreier, du bist das „wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9), du bist „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Dir vertraue ich mich mit meinem Leben an.

Wenn uns dieses persönliche Begegnung und dieses Gottvertrauen fehlen, wachsen uns möglicherweise die digitalen Bilder immer mehr über den Kopf, wird die Lebenshöhle immer tiefer, macht uns immer einsamer. Ja, unser Leben ist bei Gott nicht als Höhlenmensch vorgesehen. An Weihnachten dürfen wir gemeinsam singen:

Ich steh an deiner Krippen hier,
o Jesu, du mein Leben;
ich komme, bring und schenke dir,
was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel und Mut, nimm alles hin
und laß dir’s wohlgefallen.

Ich lag in tiefster Todesnacht,
du warest meine Sonne,
die Sonne, die mir zugebracht
Licht, Leben, Freud und Wonne.
O Sonne, die das werte Licht
des Glaubens in mir zugericht‘,
wie schön sind deine Strahlen!

[1] Vgl. Ernst Benz, Die Höhle in der alten Christenheit und in der östlich-orthodoxen Kirche, Eranos-Jahrbuch 22, Zürich 1954, 365-432, wieder abgedruckt in: Ernst Benz, Urbild und Abbild: Der Mensch und die mythische Welt. Gesammelte Eranos-Beiträge, Leiden: Brill 1974, 1-68.

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